Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 4 by Rudolf Walther

Autor:Rudolf Walther
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Oktober Verlag
veröffentlicht: 2014-09-10T00:00:00+00:00

Postskriptum (2008)

Zehn Jahre nach dem Nachruf – mitten in der Finanzkrise – erweist sich die Systemtheorie Luhmanns als Sackgasse: Angesichts der weltweiten Krise, die mit der Bankenkrise begann und nun die ganze Wirtschaft erfasst, hat sich auch die Volkswirtschaftslehre blamiert. Sie kaprizierte sich in den letzten zwanzig Jahren fast ausschließlich auf immer kompliziertere mathematische Modelle. Diese und die daraus abgeleiteten volkswirtschaftlichen Maximen und Prognosen präsentierten sich scheinbar politikfrei im Gewand quasi-naturgesetzlicher Notwendigkeiten als »wirtschaftliche Vernunft«. Eine »Vernunft« von sehr beschränkter Haltbarkeit, wie sich nun im Weltmaßstab herausstellt.

Politikfern bzw. entpolitisiert kommt auch Niklas Luhmanns Systemtheorie daher. Diese macht aus den funktional differenzierten Teilsystemen der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft und des Rechts gleichsam »automatische Subjekte«, die fast völlig unabhängig voneinander und angeblich nach je eigenen Systemlogiken agieren. »Jedes System tut, was es tut.« Mit dieser Tautologie konstruiert Luhmann seine Theorie gesellschaftlicher Prozesse als Analogie von Naturprozessen.

Jedes System hat nach Luhmann die Fähigkeit, die Elemente, aus denen es besteht, autonom zu produzieren und zu reproduzieren. Die Selbsterhaltung und Selbststeuerung ist absolut. Der Versuch, Systeme von außen zu beeinflussen, bleibt entweder unwirksam oder zerstört das System. Zwar sieht Luhmanns Theorie auch eine »strukturelle Kopplung« vor – zum Beispiel des Systems Politik mit dem System Wirtschaft, aber diese Kopplung ist nur ein punktuelles Ereignis, das in dem Moment verschwindet, in dem es entsteht.

Jedes System hat seine spezifischen Steuerungsmedien bzw. Codes. Der Code des Teilsystems Wissenschaft ist die Unterscheidung von wahr und unwahr. Würde man mit dem Steuerungsmedium Geld aus dem Teilsystem Wirtschaft im System Wissenschaft operieren, würde man dieses ebenso zerstören wie mit der Einführung von Geld in das Teilsystem Liebe, das dadurch zum Teilsystem Prostitution/Wirtschaft geriete. Soweit die Theorie, die vordergründig durch Eleganz und Plausibilität besticht.

Die gegenwärtige Banken- und Wirtschaftskrise belegt die sehr beschränkte Reichweite von Luhmanns ingeniösem System von Legobausteinen aus ein paar Dutzend multifunktional einsetzbaren Begriffen. Die Theorie sollte »der Erfassung und Reduktion von Weltkomplexität« dienen. Die Begriffe gleichen allerdings eher dem, was Luhmann über Werte gesagt hat: Es sind »Ballons zum Aufblasen besonders bei Festlichkeiten« und selbstgenügsamer Pirouettendreherei im akademischen, gegen die Wirklichkeit abgedichteten Arkanum.

Das reale Teilsystem Wirtschaft ist momentan nicht mit der Selbsterhaltung und Selbststeuerung beschäftigt, sondern mit der tendenziellen Selbstzerstörung und der Suche nach Hilfe bei »Vater Staat« (FAZ), was unter dem herrschenden Neoliberalismus noch bis gestern als Sakrileg galt. Halbe Bibliotheken systemtheoretischer Literatur erweisen sich angesichts der Krise nach der Ansicht des scharfsinnigen Juristen Peter Derleder als »Makulatur«, wie die folgende Sentenz von Luhmann belegt: »Jedes Funktionssystem kann nur die eigene Funktion erfüllen. Keines kann im Notfalle auch nur kontinuierend-ergänzend für ein anderes einspringen. Die Wissenschaft kann im Falle einer Regierungskrise nicht mit Wahrheiten aushelfen. Die Politik hat keine Möglichkeiten, den Erfolg der Wirtschaft zu bewerkstelligen, so sehr sie politisch davon abhängen mag und so sehr sie so tut, als ob sie es könnte.«

Bei Luhmann selbst wie bei Legionen von Luhmanninis, die schon länger nur noch von den nur zum Teil von Luhmann geerbten Ressentiments gegen Aufklärung, Kritik und Protest leben, ist nicht vorgesehen, was tatsächlich passiert–

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